Der eingerüstete Zeitglockenturm vom Marktplatz her gesehen

Ein Schaufenster in die Vergangenheit

Die pompöse Gerüstkonstruktion mitten in der Solothurner Altstadt sorgte 2022 für viele staunende Blicke von Passantinnen und Passanten. Hinter der temporären Fassade wurde an einem Solothurner Wahrzeichen gearbeitet: Der Zeitglockenturm wurde saniert. Und dabei auch kommen den Generationen etwas mit auf den Weg gegeben.</strong >

Die goldene Kugel befindet sich in schwindelerregender Höhe auf der Spitze des Zeitglockenturms. Normalerweise kommt niemand da hoch. Es sei denn, der Turm sei komplett eingerüstet. Dem Betrachter und der Betrachterin bietet sich ein atemberaubender Ausblick auf die Dächer der historischen Solothurner Altstadt – und weit darüber hinaus. Neben dem ungewöhnlichen Platz haben die Kugel und ihre kleinere Schwester, die «Mondkugel», aber noch eine ganz andere Qualität: Sie dienen seit Jahrhunderten als Zeitkapseln (s. Kasten). Immer dann, wenn der Zeitglockenturm saniert wird, holt man die Kugeln auf den Erdboden herunter, um sie aufzufrischen und zu reparieren. Öffnet man sie, kommt Erstaunliches zum Vorschein: Bei jeder Sanierung wurden Gegenstände, Schriftstücke und sonstige Hinweise auf die gerade aktuelle Zeit in die Kugeln gelegt. Es ist ein einzigartiges Schaufenster in die Vergangenheit, das zeigt, was die Stadt zu damaligen Zeiten bewegt hat.

Sorge tragen!

Oft finden sich in den Zeitkapsel-Dokumenten mahnende Worte. So steht zum Beispiel auf einer Notiz von 1963: «Wenn diesem Uhrwerk und der ganzen Anlage, die nun seit 418 Jahren in Betrieb steht, Sorge getragen wird, so kann sie noch weitere Jahrhunderte der Solothurner Bevölkerung die Zeit angeben und sie mit ihrem Figurenspiel an die Vergänglichkeit alles Irdischen ermahnen.» Der Verfasser dieser Zeilen sagt also den kommenden Generationen, dass sie das Werk gefälligst in Schuss zu halten haben. Dies ist bis heute geschehen. Die Totalsanierung im Jahr 2022 ist der beste Beweis dafür.

Aber was meinte der Verfasser im Zusammenhang mit dem Zeitglockenturm mit der «Vergänglichkeit alles Irdischen»? Hierzu empfiehlt sich ein Blick auf die sogenannte Automatengruppe, die sich geschützt von einem kleinen Dach zwischen den beiden mächtigen Zifferblättern befindet. Sie stammt aus dem Jahr 1545 und besteht – links beginnend – aus einem Ritter, einem

König und dem Tod. Der Tod hält in der rechten Hand eine Sanduhr, die er unmittelbar vor dem Stundenschlag dreht – das Stundenglas. So symbolisiert er die Gegensätzlichkeit des Lebens, wie gut/böse oder Leben/Tod. In der linken Hand hält er den todbringenden Pfeil, der in jedem Augenblick jeden treffen kann. Mit jedem Stundenschlag dreht er den Kopf gegen den Krieger und ermahnt uns, die wir immer wieder staunend dieses Schauspiel bewundern, unsere eigene Vergänglichkeit nicht zu vergessen.

Ein historisches Sammelsurium

Die Zeitkapsel beherbergt aber noch viel mehr Spannendes aus vergangenen Zeiten: In einer der Kugeln befindet sich noch heute ein Reliquienkästchen aus dem Jahr 1672. Oder Käse- und Milchkarten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Die Karten berechtigten die Inhaber zum Bezug von Käse und Milch – zu dieser Zeit rationierte Güter. Heute unvorstellbar! Damals war dies aber ein Thema, das der Stadt so wichtig erschien, dass sie es in der Zeitkapsel verewigt haben wollte.

So sieht die grosse Kugel von innen aus.

Und heute?

In vielleicht zwanzig oder dreissig Jahren muss der Zeitglockenturm wieder saniert werden. Und das Schauspiel wiederholt sich. Doch was erwartet die Menschen, welche die goldene Kugel öffnen werden? Sie werden zum Beispiel die gedruckte Ausgabe der «Solothurner Zeitung» vom Mittwoch, 3. August 2022, vor- finden. Und vielleicht werden sie recherchieren müssen, was eine medizinische Massnahme mit einem griechischen Buchstaben zu tun hat. Die Zeitung titelte nämlich in fetten Lettern auf der Frontseite: «Zweiter Booster: Die Impfung gegen Omikron steht bald bereit.» Möglicherweise werden sich die Leute auch fragen, was das überhaupt für ein raschelndes Produkt ist, dass sie da in den Händen halten. Man weiss es nicht. Wen die eigene Vergänglichkeit bis dahin nicht eingeholt haben wird, der wird vielleicht erzählen können, worum es damals gegangen ist.

Das imposante Gerüst von Süden her.

Neben weiteren Dingen wird auch der Beleg für ein historisches politisches Ereignis zum Vorschein kommen: Am 26. September 2021 wählten die Solothurnerinnen und Solothurner mit Stefanie Ingold zum ersten Mal in der Stadtgeschichte eine Frau zu ihrer Stadtpräsidentin. Das von Mitgliedern des Wahlbüros unterzeichnete «Protokoll der Beamtenwahlen» liegt nämlich ebenfalls in der Zeitkapsel aus dem Jahr 2022, zusammen mit einem Ticket für das Open-Air zur Feier des 2000-jährigen Bestehens der Stadt Solothurn. Die Solothurner Rocker von «Krokus», der erfolgreichsten Schweizer Rockband, spielten zu Ehren der Stadt am 10. September ein legendäres Konzert vor der St. Ursen-Kathedrale.

Darüber zu spekulieren, warum ausgerechnet diese Belege der Solothurner Geschichte aus den Anfängen der 2020er-Jahre ausgewählt wurden, bleibt kommenden Generationen überlassen.



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