Der Prototyp eines Stammgastes

 

Vor 84 Jahren betrat Urs Bünzly zum ersten Mal die Gaststube des roten Turms. Und er tut dies noch heute – wenn auch mit Gehhilfe – jeden Mittwoch und jeden Samstag. Eine Hommage.

Die Solothurner Chronik aus dem Jahr 1938 listet allerlei Geschichtsträchtiges auf: So wurde beispielsweise im Januar «der Beginn der Arbeiten am neuen Kantonsschul-Gebäude in Solothurn (…) in einer Feier des ersten Spatenstiches dargestellt». Oder: Vom 16. bis am 24. Juli führte «die Stadtschützengesellschaft Solothurn (…) ein interkantonales Stadtschiessen durch». Unerwähnt hingegen bleibt ein Ereignis von historischer Tragweite mit fortdauernder Einwirkung auf die Gegenwart – zumindest für den Roten Turm: Urs Bünzly betritt im zarten Alter von 17 Jahren als Mitglied der Studentenverbindung «Dornachia Solodorensis» zum ersten Mal die Gaststube des Turms.

 

Vorschriften noch nicht so streng

Der studierte Apotheker Urs Bünzly, der 2021 seinen 100. Geburtstag feiern durfte, blickt auf eine bewegte Familiengeschichte zurück. Dabei immer im Zentrum: das Geschäft. Die Familie führte einen aus heutiger Sicht kaum vorstellbaren Gemischtwarenladen, bestehend aus Chemikalien für die nahegelegene Industrie, einem klassischen Drogeriegeschäft und Mineralwasser. «Damals waren die Vorschriften noch nicht so streng», erklärt Bünzly und gerät ins Grübeln. «nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn es einen Unfall gegeben hätte!» Schliesslich lagerten die Bünzlys sämtliche Chemikalien, viele davon hochentzündlich und explosiv, mitten in der Solothurner Altstadt, heute Standort der Drogerie «Nagel» an der Hauptgasse. Mit dem Bau der Autobahnen ab Mitte der 1950er-Jahre wurde das Geschäft mit den Chemikalien schwierig. «Die Chemikalienhändler aus Basel wurden plötzlich zu direkten Konkurrenten. Mit ihren Lastwagen auf der Autobahn waren sie schnell bei unseren Kunden in Solothurn», erklärt Urs Bünzly mit einer Deutlichkeit, als wäre das alles erst gerade vor ein paar Tagen passiert.

 

«Monsieur Bünzli» gezeichnet von Meisterhand

Urs Bünzly sitzt meist mit einer Zeitung vor einer dampfenden Tasse Kaffee in der Gaststube des Roten Turms. «Ich bin mir den Turm gewöhnt. Hier fühle ich mich gut aufgehoben», erklärt er.
Jahrelang war Bünzly auch zusammen mit seinen Altersgenossen am legendären «Jahrgänger-Hock» zugegen. Einmal fiel ihm dabei auf, dass ein weiterer Turm-Stammgast immer an den Jahrgänger-Tisch zu Bünzly blickte und dabei wie wild etwas auf ein Blatt Papier kritzelte. Es handelte sich dabei um «Nico», mit bürgerlichem Namen Klaus Peter Robert Cadsky, den 2011 verstorbenen Karikaturisten. Er war unter anderem für den «Tages Anzeiger» oder für den «Nebelspalter» tätig. Seine zahlreichen Karikaturen schmücken heute eine ganze Wand in der Turmstube. Eines seiner Werke zeigt «Monsieur Bünzli».

 

Zweimal pro Woche Tertianium – Turm retour

Heute ist Urs Bünzly das letzte noch lebende Mitglied seines geliebten «Jahrgänger-Hocks». Doch auch wenn seine Freunde nicht mehr mit dabei sind, eines lässt sich der rüstige Senior nicht nehmen: «Jeden Mittwoch und Samstag gehe ich vom Tertianum zu Fuss in den Turm. Nach Hause geht’s dann mit dem Taxi.»

Ob der Nachhauseweg vor 84 Jahren nach dem ersten studentischen Trinkgelage ebenfalls mit dem Taxi stattgefunden hat, ist nicht überliefert. Es ist auch nicht wichtig. Solange er nämlich kann, will Urs Bünzly nach vorne schauen. Und im Turm einkehren. Jeden Mittwoch und jeden Samstag.

 

Nachtrag:

Im Januar 2023 ist Urs Bünzly zu seiner letzten Reise aufgebrochen. Wir werden sein freundliches und aufmunterndes Wesen sehr vermissen.

Bild Bünzly