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Nackte Tatsachen im Haus der Bürger

SKANDAL!

Was sich gegen Ende der 1930-er Jahre im Turm abgespielt hatte, sollte für viele Wochen Stadtgespräch bleiben. Feine Herren aus der Solothurner Oberschicht liessen sich von leichten Mädchen unterhalten. Ganz unter dem Motto: «Feiern bis die Polizei kommt.»

Heute würde kein Hahn mehr danach krähen. Doch was sich vor etwa siebzig Jahren im Roten Turm abgespielt hat, war für die damalige Zeit ziemlich dicke Post. Aber immer der Reihe nach: «Es muss irgendwann gegen Ende der Dreissiger Jahre gewesen sein», erinnert sich eine Zeitzeugin. Sie möchte ob der Brisanz der Geschichte ungenannt bleiben. Die heute 94-Jährige, nennen wir sie Emma, kann sich aber noch ganz genau erinnern: «Die Sache war das Stadtgespräch für viele Wochen.» Mit Sache meint die Dame einen feuchtfröhlichen Abend im ersten Stock des Turms. Alle sollen sie da gewesen sein, praktisch die ganze städtische Elite. Getrunken wurde nicht etwa Most oder Bier, sondern Flaschenwein – eine für die damalige Zeit unglaublich teure Form des Rebensaftes. «Flaschenwein!», betont Emma immer wieder. Schon alleine das war suspekt.

Als sich der Abend und damit die Öffnungszeit des Turms seinem Ende näherten, dachte die feine Gesellschaft nicht im Entferntesten daran, sich auf den Heimweg zu begeben. Vielmehr habe sich einer der Herren ans Klavier gesetzt und die feuchtfröhliche Runde unterhalten, weiss Emma zu berichten. Als ob der Musik nicht genug gewesen wäre, wurden die Herren nach Mitternacht plötzlich von tanzenden Schönheiten in ihren Bann gezogen. Die jungen Frauen waren äusserst spärlich bekleidet. Der guten Stimmung im Saal war diese Tatsache äusserst förderlich.

nackte tatsachen

Die Anwesenheit der nackten oder zumindest halbnackten Mädchen brachte das Fass endgültig zum Überlaufen: Die von der Serviertochter alarmierte und daraufhin mit mehreren Beamten herangerückte Polizei setzte der Party ein jähes Ende. Offiziell sei die Polizei nur gekommen, um den Feierabend durchzusetzen, erinnert sich Emma. «Da war man nämlich früher unheimlich streng.»

Die Striptease-Show im Turm drang dennoch innert weniger Stunden durch alle Gassen der kleinen Stadt und wurde sogar zu einem beliebten Fasnachts-Sujet. Die Zeitungen hielten sich in der Berichterstattung vornehm zurück. Es waren einfach zu viele grosse Fische an diesem Abend mit von der Partie. Dem Ansehen des Turms hat die Geschichte jedenfalls nicht geschadet. Auch sieben Jahrzehnte nach den skandalträchtigen Ereignissen pflegt Emma fast täglich im Turm zu Mittag zu essen. Jede Woche, ohne Unterbruch, Dienstag bis Donnerstag. 
Und manchmal gibt’s sogar Flaschenwein.

© Hotel Roter Turm, 4500 Solothurn