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Martin Disteli (1802–1844):
Selbstbildnis um 1840

Liebesgeschichte

MARTIN DISTELIS UNGLÜCKLICHE LIEBE ZU CATHARINA CAROLINA MEHLEM, TOCHTER DES WIRTES VOM «ROTEN TURM»

1828 heiratete Disteli die Bauerntochter Theresia Gisiger. Martin war ein Jugendkamerad ihres Bruders. Das bildschöne, erst zwanzigjährige, lungenkranke Mädchen muss den Künstler triebhaft angezogen haben. Sinnlichkeit riss die beiden hin; an eine dauernde Bindung hat Disteli dabei kaum gedacht.

Im allerletzten Augenblick, eine Woche vor Geburt des Kindes, hat er sie zum Altar geführt. Das Töchterchen Antonia starb schon einen Tag nach der Geburt. Diese Notehe, gegen die sich sein heftiger Individualismus sträubte, wurde Disteli zur unerträglichen Fessel, zur schweren Last. 1831 starb Theresia, erst 23 Jahre alt, an der Schwindsucht. Erst jetzt erkannte Disteli, wie sehr er sie trotz allem geliebt hatte. Er zeichnete sie auf dem Totenbett und bewahrte dieses Blatt wie eine Reliquie.

Martin Distelis Eigenwilligkeit in Beruf und Militär entsprang seinem starken Individualismus, der den Künstler schon früh zur liberalen Bewegung geführt hatte. Er wurde auch in seinem Privatleben immer mehr zu einem brummigen Eigenbrötler. Vereint mit assozialem Verhalten wird das sichtbar in seinem späteren Liebesleben. Carolina Mehlem wurde 1810 geboren, als Tochter von Georg Jakob Mehlem, dem Wirt zum Roten Turm und der Anna geb. Hammer Martin Disteli und Carolina Mehlem haben sich 1837 beim Theaterspielen, in der Liebhaberaufführung von Willhelm Tell kennen gelernt. Disteli spielte sehr realistisch den Tell, er spielte sich selbst. Carolina passte gut in die Rolle der bescheidenen, ruhig entschlossenen Stauffacherin, auch sie scheint sich selbst gespielt zu haben. Gerade dadurch gewann sie das Herz des rauen schon bald 40-jährigen Disteli. Er schien auf einmal ein anderer zu werden. Er wechselte den fadenscheinigen grünen Rock gegen einen blauen Frack mit gelben Knöpfen und die alte grüne Klappmütze gegen einen kurz-geschobenen Zylinder. Er rasierte, wusch und pflegte sich wieder fleissig. Der Oberst und berühmte Künstler gewann so auch ihr Herz und sie verlobten sich im Geheimen.

Aber die Braut vermochte den wilden Diestli nicht zu beruhigen. Es sind einige Briefe dieser Brautzeit erhalten. Die Wirtefamilie Mehlem widersetzte sich der Verbindung mit dem antiklerikalen Stammgast, dessen menschliche Schwächen und unsichere finanzielle Lage man allzu gut kannte. Carolina war so unklug Disteli zu schreiben, er habe eine weitere Eroberung gemacht. Es hatte sich nämlich noch eine andere in den trockenen und trotzigen Oberst verliebt. Es war die Kellnerin im Roten Turm, die ihre Huld freigebiger verschenkte als die zurückhaltende Carolina. Disteli aber war nicht der Mann, der eine angebotene Erquickung zurückwies. Schon 1840 kam es in der Familie Mehlem zu einem schrecklichen Auftritt:

«Meine Mutter wollte uns überraschen, ach Oberst, sie wollte mich schlagen.»

Nie habe ich meine arme Mutter so gesehen, sie war rasend.

«Sie erklärte, dass sie das Verhältnis nie billigen werde. Sie führte Gründe an, die ich Ihnen nicht wiederholen kann.»

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Martin Disteli (1802–1844):
Altermatt und Pfaffe. Um 1840

Als dann ein älterer, offenbar sehr wohlhabender Fremder um Distelis Braut warb, die von der rauen Art und seiner junggesellenhaften Lebensführung enttäuscht war, gab sie nach hartem seelischen Ringen dem Drängen ihrer Familie nach und entschloss sich im Sommer 1841, «unser langes, aber trübes Verhältnis zu lösen. Es hat mir nur Kummer gebracht aller Art. Sie kannten die Ursachen vieler Unannehmlichkeiten mit meiner Familie, und Sie haben nicht gesucht, mich aus dieser drückenden Lage zu befreien. Nicht die Bitten und Drohungen meiner armen Mutter haben mich zu diesem Schritt bewogen, die überzeugung allein, dass Mangel an Liebe zu mir Sie so gleichgültig liess… Hätten Sie während den vier Jahren unserer Bekanntschaft durch Ihre Handlungsweise nur so viel Liebe bewiesen als in den wenigen vor mir liegenden Worten, nie hätte ein anderer meine Neigung entreissen können.»

Und in einem späteren Brief: «Es ist nicht Ihre raue Manier, die mich zu diesen Abgrund führet, obschon Sie mir damit tausendmal Tränen des bittersten Schmerzes ausgepresst haben. Sie wussten es nie, wenn Sie mir weh taten, deshalb zieh ich Ihnen immer.»

Carolina berührt dann
Des Künstlers Schwäche für die im gleichen Hause wohnende buhlerische Kellnerin,
die er häufig spät abends aufsuchte, «während welcher Zeit ich oft dieses Umstandes wegen heisse Tränen weinte. Ich war nie eifersüchtig, aber ich schämte mich tief in der Seele… wenn Sie mich lieb gehabt hätten, würden Sie mich verstanden haben und mir zuliebe diese Gewohnheit aufgegeben haben. Sie haben keinem meiner Wünsche Rechnung getragen, keinen Beweis von Liebe mir gegeben auch, wo Sie es billig fordern konnten, Sie glaubten sich der Mühe überhoben, mir Ihre Liebe in etwas zu zeigen. Ich habe schrecklich gekämpft mit meinem Stolz und meiner Liebe, ich habe halbe Nächte geweint. Sie dürfen es mir glauben, ich war keine glückliche Braut; die Zeit, die die glücklichste in meinem Leben hätte sein können, haben Sie mir in strafbarem Mutwillen und Männerübermut verbittet… Ich fühle erst jetzt deutlich, dass mich keine Vorteile, nichts in der Welt mich hätte von Ihnen trennen können, hätten Sie nicht übermütig, weil Sie mich Ihnen verfallen glaubten, alle Rücksicht aus den Augen verloren.»

Disteli konnte auf diese Vorwürfe nichts erwidern. Aber mit der Hemmungslosigkeit des Ohnmächtigen, im wilden Jammer um das durch eigene Schuld verpfuschte Lebensglück stürzte er sich jetzt auf seinen Nebenbuhler, um ihn vor Carolina als noch ausschweifender anzuprangern, als er selbst es war. In einem noch erhaltenen Briefentwurf bezeichnet er ihn als «durch und durch venerisch» und kramte Einzelheiten seiner Krankheit aus. Es ist die Sprache eines Menschen, der Halt und Haltung verloren hat. Der qualvolle Schmerz spricht aus seinen Worten:

Oh, ein herzerhebendes Gefühl, auf Liebe, Ehre und Treue haltend und in tiefer Sorge für ein künftiges Verhältnis arbeitend, von einem abgelebten venerischen Buben, von einem vagierenden Halunken verdrängt zu werden! – Ich sagte Ihnen am zweiten Tage seines Aufenthaltes im Roten Turm, dass Sie einen Spitzbuben im Hause haben.

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Martin Disteli (1802–1844):
Fronleichnamsprozession, Olten. Um 1840

Leben Sie wohl und glücklicher, als ich es je wieder werde sein können, denn Sie haben mir den Glauben an Ehre und Treue aus dem Herz gerissen.

Disteli hatte sich, ohne Rücksicht auf seine Braut, zügellos von der Sinnlichkeit treiben lassen. Nun begründete er Carolinas Auflösung des Verlöbnisses aus ähnlicher Schwäche. Sie antwortete mit wenigen Zeilen:

«Ich war Ihnen nie untreu in dem Sinne, den Ihr roher Brief voraussetzt; nicht einmal ganz die Herzenstreue habe ich Ihnen gebrochen; denn bis jetzt beweinte ich immer noch einen Schritt, den ich ein Unrecht gegen Sie nannte; ich habe nichts mehr zu beweinen; denn es gibt keinen Disteli mehr, wie ich mir ihn gedacht…»

Kurz darauf hat Carolina Mehlem Teodor Dudenhöfer aus St. Louis geheiratet. Disteli ist in dieser Zeit tagelang verzweifelt in den Wäldern herumgeirrt. Er hatte sich, als er mit Carolina noch gut stand, das Essen aus dem Roten Turm kommen lassen. Jetzt hielt er sich nicht mehr dafür. Er hörte auf, regelmässig zu Essen, nahm kaum noch warme Speisen zu sich. Mit starkem Kaffee und Fusel suchte er die schwindenden Lebensgeister aufzupeitschen. Immer mehr verfiel er dem Alkohol. Dass Disteli damals von einem Landjäger, der ihn, den Herrn Obristen nicht kannte, im Bucheggberg als Landstreicher aufgegriffen und nach Solothurn gebracht wurde, sagt manches über seine äussere Erscheinung. Tragisch ist, dass dieser Zerfall eintrat, als Disteli zu nationaler Bedeutung emporgewachsen und sein Zeichenstift im Kampf um die Neugestaltung der Schweiz zur öffentlichen Macht geworden war. Die Wirkung seiner Zeichnungen griff weiter und tiefer, er war künstlerisch am Aufsteigen, während er seelisch und körperlich verfiel. Martin Disteli starb 1844 im Alter von 42 Jahren.

Beim Zusammenfassen dieser Geschichte plagte mich das Gefühl, etwas ganz intimes zweier Menschen zu verraten. Diese traurige Liebesgeschichte ist so persönlich, dass ich es unterlasse, sie bei Stadtführungen zu erzählen.
Es ist besser, sie still zu lesen.

Marie-Christin Egger
Stadtführerin
Mitglied der Association Suisse Des Guides Touristiques

© Hotel Roter Turm, 4500 Solothurn